Kapitel Fünfzehn
1
Reggie Stewart ließ sich in einen Sessel vor Dr. Pedro Escalantes Schreibtisch nieder. Der Kardiologe hatte in den letzten zehn Jahren einige Pfund zugelegt. Sein gewelltes schwarzes Haar war fast vollständig ergraut. Er war immer noch umgänglich mit seinen Patienten, doch seine gute Laune war nicht mehr ein Teil seines Wesens.
Sie trafen sich im Behandlungszimmer des Arztes im Wayside Ärztezentrum. Ein Diplom der Brown-Universität und ein weiteres vom Tufs-Medizinerkolleg hingen an der Wand. Unter den Urkunden befand sich eine Kinderzeichnung von einem Strichmännchen, das neben einer gelben Blume stand, die fast genauso groß wie es selbst war. Ein Regenbogen erstreckte sich von einer Seite des Bildes zur anderen.
»Ist das Ihre Tochter?« fragte Stewart. Eine Fotografie von Gloria Escalante, die ein kleines Mädchen auf ihrem Schoß hielt, stand auf einer Ecke des Schreibtisches. Um ein Gespräch in Gang zu bringen, fragte Stewart, ob das Mädchen das Bild an der Wand gemalt hatte. So wollte er sich zu einem Gegenstand vortasten, der ganz bestimmt wieder schmerzhafte Erinnerungen wurde aufbrechen lassen.
»Unsere Adoptivtochter«, antwortete Escalante traurig.
»Gloria war nach der schlimmen Sache nicht mehr in der Lage, Kinder zu bekommen.«
Stewart nickte. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Wenn Sie Ihre Reise hierher nur gemacht haben, um mit meiner Frau zu sprechen, dann war es leider Zeitverschwendung. Wir haben unser Bestes getan, die Vergangenheit zu vergessen.«
»Ich verstehe, warum Ihre Frau nicht mit mir sprechen will, aber hier geht es buchstäblich um Leben und Tod. In Oregon gibt es die Todesstrafe, und es besteht kein Zweifel, dass mein Klient zum Tode verurteilt wird, wenn er schuldig gesprochen wird.«
Dr. Escalantes Gesichtszüge verhärteten sich. »Mr. Stewart, wenn Ihr Klient mit diesen Frauen das gemacht hat, was meiner Frau angetan wurde, dann ist der Tod noch eine zu milde Strafe.«
»Sie kennen meinen Klienten als Peter Lake, Dr. Escalante. Seine Frau und seine Tochter wurden von Henry Waters umgebracht. Er hat dasselbe durchgemacht wie Sie. Wir haben es hier mit einem Komplott der übelsten Sorte zu tun. Ihre Frau weiß vielleicht etwas, was einen Unschuldigen retten kann.«
Escalante senkte den Blick auf die Tischplatte. »Unsere Entscheidung steht fest, Mr. Stewart. Meine Frau wird über das, was ihr angetan wurde, mit niemandem sprechen. Es hat zehn Jahre gedauert, bis sie darüber hinweg war, und so soll es auch bleiben. Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Ich weiß einiges.«
»Ich bin für jede Hilfe dankbar.«
»Ich möchte nicht, dass Sie meine Frau für hartherzig halten, Mr. Stewart. Wir haben Ihre Bitte um ein Gespräch sehr ernsthaft abgewogen, aber es wäre zu viel für Gloria. Sie ist stark, sehr stark. Sonst hätte sie das auch nicht durchgestanden. Doch so stark sie auch ist, erst in den letzten paar Jahren ist sie wieder in etwa zu der Frau geworden, die sie einmal war. Seit Ihrem Anruf sind die Alpträume zurückgekehrt.«
»Glauben Sie mir, ich würde Ihrer Frau nie Fragen...«
»Nein, nein. Ich verstehe, warum Sie hier sind. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Ich möchte Ihnen nur erklären, warum ich nicht zulassen kann, dass sie das alles noch einmal durchlebt.«
»Dr. Escalante, meine wichtigste Frage an ihre Frau ist, ob sie das Gesicht des Entführers gesehen hat.«
»Wenn Sie deshalb gekommen sind, dann muss ich Sie enttäuschen. Sie wurde von hinten genommen. Er hat Chloroform benutzt. Während ihrer Gefangenschaft musste sie immer eine Lederkappe ohne Augenschlitze tragen, wenn ihr... Peiniger... Wenn er kam.«
»Sie hat sein Gesicht nie gesehen?«
»Nie.“
»Was ist mit den anderen Frauen? Haben sie den Mann gesehen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo ich Anne Hazelton oder Samantha Reardon finden kann?«
»Anne Hazelton hat sechs Monate später Selbstmord begangen. Samantha Reardon war eine Zeitlang in einer psychiatrischen Klinik. Sie hatte einen totalen Zusammenbruch. Simon Reardon, ihr Mann, hat sich von ihr scheiden lassen«, erklärte Escalante mit deutlichem Missfallen in der Stimme. »Er ist vor Jahren weggezogen. Er ist Neurochirurg, Sie können ihn sicher über die amerikanische Ärztevereinigung ausfindig machen. Er weiß vielleicht, wo seine geschiedene Frau lebt.«
»Das hilft mir schon weiter«, sagte Stewart, während er sich Notizen machte.
»Sie können den anderen Privatdetektiv fragen. Er hat sie vielleicht schon gefunden.«
»Wie bitte?«
»Es war schon ein anderer Detektiv hier. Ihn habe ich auch nicht mit Gloria sprechen lassen. Das war im Sommer.«
»Die Frauen sind aber erst ab August verschwunden.«
»Nein, das muss schon im Mai, Anfang Juni gewesen sein. Irgendwann um die Zeit.«
»Wie hat er ausgesehen?«
»Es war ein kräftiger Mann. Ich habe mir gedacht, dass er wohl einmal Football gespielt oder geboxt haben muss, weil er eine gebrochene Nase hatte.«
»Das hört sich nicht danach an, als sei es jemand aus dem Büro des Staatsanwalts gewesen. Außerdem können sie zu diesem Zeitpunkt nichts damit zu tun gehabt haben. Können Sie sich an seinen Namen erinnern, oder von wo er kam?«
»Er war aus Portland. Ich habe seine Visitenkarte.« Escalante zog die oberste Schublade seines Schreibtisches auf und nahm eine weiße Visitenkarte heraus. »Samuel Oberhurst«, las er vor und reichte die Karte Stewart. Auf der Karte stand Oberhursts Name und eine Telefonnummer, keine Adresse. Die Nummer war die gleiche, die er von Betsy bekommen hatte.
»Dr. Escalante, was ist mit den Frauen passiert, nachdem sie entführt worden waren?«
Escalante holte tief Luft. Stewart konnte ihm den Schmerz selbst nach all den Jahren noch anmerken.
»Meine Frau hat mir erzählt, dass es außer ihr noch drei Frauen gab. Sie wurden in einem alten Bauernhaus gefangen gehalten. Sie weiß nicht, wo das Haus ist, denn als sie dort hingebracht wurde, war sie bewusstlos, und als man sie wegbrachte, stand sie unter Schock. Sie war fast verhungert, ein Wunder, dass sie noch lebte.«
Escalante unterbrach sich, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und atmete nochmals tief durch.
»Die Frauen wurden nackt in Verschlagen gehalten. Ihre Knöchel waren mit Ketten gefesselt. Immer, wenn er gekommen ist, war er maskiert, und sie mussten die Kappen aufsetzen. Dann... dann hat er sie gefoltert.« Escalante schloss die Augen und schüttelte den Kopf, so, als ob er Bilder verscheuchen wollte, die zu schrecklich waren. »Ich habe nie gefragt, was er gemacht hat, aber ich habe die medizinischen Berichte über meine Frau gesehen.«
Escalante machte erneut eine Pause.
»Das muss ich nicht wissen, Doktor. Das hilft mir nicht weiter«, sagte Stewart einfühlsam.
»Danke.«
»Wichtig ist die Identifikation. Wenn sich Ihre Frau an irgendetwas in Verbindung mit ihrem Entführer erinnern könnte, das beweisen würde, dass es sich nicht um Peter Lake gehandelt hat.«
»Ich verstehe. Ich werde sie fragen, aber ich bin sicher, dass sie Ihnen nicht weiterhelfen kann.«
Dr. Escalante verabschiedete sich von Stewart und brachte ihn zur Tür. Dann ging er wieder in sein Büro und nahm die Fotografie seiner Frau und seiner Tochter in die Hand.
2
Betsy hatte am Freitag den Eröffnungstermin in einer Scheidungsangelegenheit. Sie war gerade dabei, die Unterlagen in ihren Aktenkoffer zu verstauen, als ihr Ann mitteilte, dass Reggie Stewart am Telefon sei.
»Wie war die Reise?« fragte Betsy.
»Ganz gut, aber es ist nicht viel dabei herausgekommen. Die ganze Sache hat etwas Mysteriöses an sich, und mit jeder Minute wird es mysteriöser.«
»Lass hören!«
»Ich kann es nicht festmachen. Ich weiß aber, dass etwas faul ist, wenn mich Leute anlügen und es keinen Grund dafür gibt.«
»Wieso anlügen?«
»Das ist es ja gerade. Ich habe keine Ahnung, aber ich weiß, dass da etwas im Busch ist.«
»Erzähl, was du bis jetzt weißt«, forderte ihn Betsy auf, und Stewart berichtete ihr von seinen Gesprächen mit Frank Grimsbo und Dr. Escalante.
»Nachdem ich mich von Escalante verabschiedet hatte, bin ich in die öffentliche Bibliothek gegangen und habe mir die Zeitungsberichte über den Fall angesehen. Ich habe erwartet, Interviews mit den Opfern und den Polizeibeamten zu finden. Nichts. John O'Malley, der Chef der Polizei, war das Sprachrohr des Bürgermeisters. Er erklärte, dass Waters der Mörder sei. Damit war der Fall abgeschlossen. Die überlebenden Frauen wurden sofort ins Krankenhaus gebracht. Samantha Reardon sogar in eine psychiatrische Klinik. Gloria Escalante hat sich geweigert, mit Reportern zu sprechen; ebenso Anne Hazelton. Nach ein paar Wochen war das Interesse an den Fällen erloschen. Andere Sachen wurden aktuell. Doch wenn du die Zeitungsberichte und O'Malleys Erklärung liest, dann weißt du immer noch nicht, was den Frauen widerfahren ist.
Dann habe ich mit Roy Lenzer, dem Polizisten aus Hunters Point, der die Akten für Page ausfindig machen sollte, gesprochen. Er weiß, dass Nancy Gordon vermisst wird, und hat in ihrem Haus nach den Akten gesucht. Ohne Erfolg. Jemand hat sämtliche Akten des Falles verschwinden lassen. Denk daran, wir sprechen hier von einem ganzen Regal voll von Berichten, Analysen, Fotografien. Aber warum? Warum sollte jemand die Akten eines zehn Jahre alten Falles verschwinden lassen? Was war in diesen Akten?«
»Reg, hat Oberhurst Kontakt mit der Polizei aufgenommen?«
»Ich habe Lenzer danach gefragt; habe auch Grimsbo angerufen. Soweit ich weiß, hat Oberhurst mit niemandem mehr gesprochen, nachdem er bei Dr. Escalante war. Auch das ergibt keinen Sinn. Wenn er für Lisa Darius ermittelt hat, dann hätte die Polizei seine erste Adresse sein müssen.«
»Nicht unbedingt«, gab Betsy zurück und berichtete dem Detektiv von ihrem Treffen mit Gary Telford.
»Ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache. Nehmen wir einmal an, du bist ein skrupelloser Privatdetektiv, ein ehemaliger Sträfling, der am Rande der Legalität arbeitet. Jemand, der nichts an einer kleinen Erpressung findet. Die Frau eines prominenten Geschäftsmanns stellt dich an, weil sie annimmt, dass ihr Mann ein Verhältnis hat. Sie gibt dir außerdem ein Album mit Zeitungsausschnitten über einen alten Mordfall.
Nehmen wir einmal an, dieser schräge Vogel fliegt nach Hunters Point und spricht mit Dr. Escalante. Da bekommt er nicht viel heraus, aber genug, um Samantha Reardon aufzuspüren, das einzige andere überlebende Opfer. Was ist, wenn Oberhurst Samantha Reardon gefunden hat und sie Peter Lake eindeutig als den Mann identifiziert hat, der sie entführt und gefoltert hat?«
»Nun, Oberhurst kommt nach Portland zurück, und weiter?« fragte Stewart. »Einen mehrfachen Mörder erpressen? Da muss man wohl verrückt sein.«
»Wer ist Mister X, Reg?«
In der Leitung herrschte für einen Moment Stille, dann fluchte Stewart: »Verdammte Scheiße.«
»Genau. Wir wissen, dass Oberhurst Lisa angelogen hat. Er sagte ihr, dass er die Hunters-Point-Sache noch nicht überprüft hätte, aber in Wirklichkeit war er schon in Hunters Point. Außerdem ist er verschwunden. Ich habe mit jedem Anwalt, der Oberhurst einmal beschäftigt hat, gesprochen. Er ist unauffindbar. Er ruft nicht zurück. Unser Mister X hat Oberhursts Figur und Größe. Was wettest du, dass die Leiche eine gebrochene Nase hat?«
»Keine Wette. Was willst du machen?«
»Nichts. Darius ist unser Klient. Wir arbeiten für ihn. Das hier ist alles streng vertraulich.«
»Selbst wenn er den Mann getötet hat?«
»Selbst wenn er den Mann getötet hat.«
Betsy hörte, wie am anderen Ende der Leitung scharf die Luft eingesogen wurde, dann meldete sich Stewart wieder: »Du bist der Chef. Was soll ich als nächstes tun?«
»Hast du versucht, einen Termin bei Wayne Turner zu bekommen?«
»Keine Chance. Seine Sekretärin sagte, er habe viel zu viel mit der Anhörung zu tun.«
»Verdammt. Gordon, Turner, Grimsbo. Sie alle wissen etwas. Was ist mit dem Polizeichef? Wie war sein Name?«
»O'Malley. Lenzer sagt, er wäre vor ungefähr neun Jahren in Pension gegangen und nach Florida gezogen.«
»In Ordnung«, meinte Betsy mit einer Spur Resignation. »Versuch, Samantha Reardon zu finden. Sie ist unsere Trumpfkarte.«
»Ich tue das für dich, Betsy. Wenn ein anderer... Ich sage dir, normalerweise schere ich mich einen Dreck, warum ich ermittle, aber in dieser Sache fange ich langsam an, mir Gedanken zu machen. Mir gefallt dieser Fall nicht.«
»Da sind wir schon zu zweit. Ich weiß auch nicht, was ich machen soll. Wir sind noch nicht einmal sicher, ob ich recht habe. Das muss ich erst einmal herausfinden.«
»Und wenn es so ist?«
»Ich habe keine Ahnung.«
3
Um neun brachte Betsy Kathy ins Bett, dann zog sie sich einen Flanellbademantel über. Nachdem sie sich eine Tasse Kaffee gemacht hatte, breitete sie die Unterlagen für den Scheidungstermin am Freitag auf dem Esstisch aus. Der Kaffee machte sie wieder wach, doch ihre Gedanken beschäftigten sich mit dem Darius-Prozess. War Darius schuldig? Betsy konnte nicht aufhören, über die Frage, die sie Alan Page während des Kreuzverhörs an den Kopf geworfen hatte, nachzudenken. Bei sechs Opfern, einschließlich eines sechs Jahre alten Mädchens! Warum sollten der Bürgermeister und der Polizeichef den Fall abschließen, wenn die Möglichkeit bestand, dass Peter Lake oder jemand anderes der wirkliche Mörder war? Es ergab einfach keinen Sinn.
Betsy schob die Akten zur Seite und nahm sich einen Notizblock. Sie schrieb auf, was sie im Fall Darius hatte. Die Liste wurde drei Seiten lang. Betsy kam zu den Dingen, die sie heute Nachmittag von Stewart erfahren hatte. Ihr kam plötzlich ein Gedanke, und sie runzelte die Stirn.
Betsy wusste, dass Samuel Oberhurst einer Erpressung nicht abgeneigt war. Er hatte es bei Gary Telford versucht. Wenn Martin Darius der Rosenmörder war, dann wäre er nicht davor zurückgeschreckt, Oberhurst umzubringen, wenn dieser versucht hätte, ihn zu erpressen. Aber Betsys Vermutung, dass Mister X Samuel Oberhurst war, ergab nur einen Sinn, wenn Samantha Reardon Martin Darius als den Rosenmörder identifiziert hatte. Und da lag der Hund begraben. Die Polizei hatte Samantha Reardon bestimmt verhört, als sie sie befreit hatten. Wenn die Sonderkommission Peter Lake und nicht Waters verdächtigt hatte, dann hätte man Samantha Reardon Bilder von Lake gezeigt. Wenn sie Lake als den Entführer identifiziert hatte, warum hatten dann der Polizeichef und der Bürgermeister Waters als den Mörder hingestellt? Warum wurde der Fall abgeschlossen?
Dr. Escalante hatte gesagt, dass Samantha Reardon in einer psychiatrischen Klinik war. Vielleicht konnte sie nicht sofort verhört werden. Aber irgendwann bestimmt Grimsbo hat Reggie gesagt, dass Nancy Gordon sich den Fall zu sehr zu Herzen genommen und nie geglaubt hatte, dass Waters der Mörder war. Nun, überlegte Betsy, nehmen wir einmal an, Samantha Reardon hat irgendwann einmal Lake als Mörder identifiziert. Warum hat Nancy Gordon oder ein anderer den Fall nicht wieder aufgerollt? Betsy dachte darüber nach.
Vielleicht war Samantha Reardon nie gefragt worden, bevor Oberhurst mit ihr gesprochen hatte. Aber hätte sie nicht von Waters gelesen und gewusst, dass die Polizei den falschen Mann beschuldigte? Sie konnte natürlich ein solches Trauma davongetragen haben, dass sie alles, was ihr widerfahren war, vergessen wollte, selbst wenn das bedeutete, dass Lake davonkam. Aber wenn das wahr war, warum hatte sie dann Oberhurst gesagt, dass Lake der Entführer war?
Betsy stöhnte. Da musste etwas sein, das sie übersah. Sie stand auf und trug ihre Kaffeetasse ins Wohnzimmer. Die New York Times vom Sonntag lag in einem Weidenkorb neben ihrem Lieblingssessel. Sie setzte sich und beschloss, die Zeitung durchzublättern. Es eine Zeitlang zu vergessen war manchmal der beste Weg, ein Problem zu lösen. Sie hatte das Feuilleton, das Magazin, den Kunstteil, aber immer noch nicht den Wochenrückblick gelesen.
Betsy überflog einen Artikel über die Kämpfe in der Ukraine, einen anderen über den Austausch von Gefangenen zwischen Nord und Süd Korea. Der Tod herrschte überall.
Betsy blätterte weiter und las einen Bericht über Raymond Colby. Sie war sicher, dass Colby ernannt würde, und das regte sie auf. Dann gab es am Gericht keine verschiedenen Meinungen mehr. Reiche, weiße Männer mit identischen Lebensläufen würden das Denken bestimmen. Männer, die keine Vorstellung davon hatten, was es bedeutete, arm und hilflos zu sein, und die vom republikanischen Präsidenten nur aus einem Grund nominiert worden waren, nämlich die Interessen der Reichen und der Regierung über die individuellen Rechte zu stellen. Colby machte da keine Ausnahme. Harvard-Absolvent, Direktor bei Marlin Steel, Gouverneur von New York, danach die letzten neun Jahre Mitglied des Senats. Betsy las eine Zusammenfassung dessen, was er als Gouverneur und Senator getan hatte, und eine Einschätzung, wie er bei einigen Fällen, die in letzter Zeit vor dem Supreme Court verhandelt worden waren, entschieden hätte. Danach überflog sie noch einen Wirtschaftsartikel. Als sie mit der Zeitung fertig war, ging sie wieder ins Esszimmer.
Der Scheidungsfall war ein Mist. Betsys Klientin und ihr Mann hatten keine Kinder, sie hatten sich geeinigt, fast den gesamten Besitz zwischen sich aufzuteilen, und nun zogen sie vor Gericht wegen eines billigen Landschaftsbildes, das sie während ihrer Flitterwochen von einem Straßenkünstler in Paris gekauft hatten. Dafür vor Gericht zu gehen, kostete beide das Zehnfache des Wertes, den das Bild hatte, aber sie blieben knochenhart. Es ging eindeutig nicht um das Bild. Fälle wie diese waren es, die Betsy fast ins Irrenhaus brachten. Doch, seufzte Betsy still vor sich hin, es waren auch Fälle wie diese, die Geld brachten. Sie begann, den Scheidungsantrag zu lesen, als sie sich an etwas erinnerte, was sie in dem Artikel über Raymond Colby gelesen hatte.
Betsy legte den Antrag weg. Der Gedanke war ihr so plötzlich gekommen, dass ihr fast schwindlig wurde. Sie ging ins Wohnzimmer zurück und las noch einmal Colbys Biographie. Da war es. Er war neun Jahre Senator gewesen. Der Polizeichef John O'Malley war vor neun Jahren in Pension gegangen und nach Florida gezogen. Frank Grimsbo war seit neun Jahren bei Marlin Steel, Colbys ehemaliger Firma. Und Wayne Turner war der Assistent des Senators.
Die Heizung im Haus war angedreht, doch Betsy fror plötzlich. Sie ging zurück ins Esszimmer und las sich ihre Liste mit den wichtigen Fakten im Fall Darius noch einmal durch. Alles stand da. Man musste die Fakten nur unter einem bestimmten Blickwinkel betrachten, dann ergab alles einen Sinn. Martin Darius war der Rosenmörder. Die Polizei in Hunters Point wusste das, als sie Henry Waters als Täter präsentierte und den Fall abschloss. Jetzt war Betsy auch klar, warum Peter Lake mit all dem Blut an seinen Händen unbehelligt aus Hunters Point verschwinden konnte. Aber eine Frage blieb offen. Warum hatte der Gouverneur von New York mit dem Bürgermeister und dem Polizeichef von Hunters Point gemeinsame Sache gemacht, um einen mehrfachen Mörder davonkommen zu lassen?